Pythia

Ausblick

Der Blick in die Zukunft ist seit jeher das, was den Einzelnen beschäftigt und der trotz aller Neugier Respekt einflößt. Die Vorstellung, Einfluss auf Abläufe zu nehmen und zu eigenen Gunsten verändern zu können, übt gleichermaßen Faszination wie Schrecken aus.

Diese Suchbewegung birgt ein Paradoxon:
je weiter man nach vorne schaut, desto näher kommt man seinem Ende.

In einem größeren Maßstab allerdings scheint sich dieser Widerspruch wieder aufzulösen.

Hinter verschlossenen Türen, fernab der Öffentlichkeit sind Firmen damit beschäftigt, Ereignisse zukünftiger gesellschaftlicher, technischer und politischer Entwicklungen vorauszusagen. Die Ergebnisse ihrer Schätzungen haben maßgeblichen Einfluss auf unser tägliches Leben.

Seit Beginn der sechziger Jahre arbeiten Think Tanks für Regierungen weltweit. Mithilfe der Delphi-Methode werden in solchen Denkfabriken Fragen beantwortet, die sich gesellschaftlich stellen und Antworten auf Fragen gefunden, die noch nicht gestellt wurden.

Zukunftsapps reichern den Zukunftsmarkt für den Privatmann an.
Für diese Branche kennzeichnend ist die schemenhafte Präsenz ihrer Akteure.
Ein mythologisches Denken wird wiederbelebt.

Das delphische Orakel im Tempel des Apollon war zwar der Allgemeinheit zugänglich,aber auch hier bekam der Besucher die Pythia nicht zu Gesicht.
Man sagte, dass sie, von zwei goldenen Adlern bewacht, mit Lorbeer im Mund und einem Lorbeerzweig in der Hand ihre Weissagungen machte.
Der Ratsuchende, ob Bauer oder König, hatte in einem Vorraum dem Mittelsmann die Frage zu übergeben, die, von der Pythia beantwortet, auf dem selben Weg zum Fragenden zurückkam.

Bis ins zweite Jahrhundert nach Christus wurde das Orakel von Delphi zu Staatsfragen, Koloniegründungen, Kriegsangelegenheiten und privaten Belangen befragt.

Der griechische Geschichtsschreiber Herodot berichtet, das Orakel habe empfohlen, Libyen zu besiedeln. Allerdings ließen die Bürger von Thera den Spruch zunächst unbeachtet. Daraufhin blieb der Regen sieben Jahre lang aus. Als sie erneut das Orakel befragten, erinnerte sie die Pythia an die ihnen aufgetragen Aufgabe, Kolonien zu gründen.

So entstanden in Dalmatien, Süditalien, Sizilien, Spanien, Frankreich und im Vorderen Orient griechische Außenstellen, die sich wie ein Netz aus Informanten und politischem Einfluss über die antike Welt spannten.

Der Orakelbetrieb erwies sich rasch als so erfolgreich, dass aus einem jährlichen Frühjahrsereignis eine regelmäßige monatliche Befragung wurde.

So pilgerten Politiker und Kaufleute, jeweils am siebten Tag eines Monats, nach Delphi, um Rat einzuholen. Für das Eintreffen der Vorhersage bedankten sie sich mit opulenten Geldgeschenken, die den Grundstein des stetig steigenden Reichtums von Delphi bildeten. Banken wurden errichtet: ein veritables Kreditgeschäft nahm seinen Anfang.

Nicht jedem gereichten die Vorhersagen der Pythia zum Vorteil. So verlor Krösus den Krieg gegen die Perser, weil er die Weissagung, dass er ein großes Reich zerstören werde, missverstand.

Als er / Krösus seine Boten mit der Beschwerde über seinen Misserfolg zur Pythia schickte, ließ diese ihm unbeeindruckt ausrichten, er hätte eben genauer nachfragen müssen, wessen Reich in der Vorhersage gemeint gewesen sei und wies ihn kühl auf eine seitdem fundamental delphische Weisheit hin:

Erkenne Dich selbst.


Sibylle Hoessler

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