Zwischen Schwarz und Weiss: DIE VOLATILITÄT DER GRAUZONEN
von Heiko Daxl
zur Arbeit von Sibylle Hoesslers AMERICAN EXPRESS – PERSUIT OF HAPPINESS

"Die Zeitlosigkeit von Landschaft setze ich ins Verhältnis zum menschlichen Streben nach Glück. Die Bewegung des Dow Jones Index innerhalb von 24 Handelstagen vom 23.10. bis zum 25.11. 2008 übersetze ich in meinen Bildern in das entsprechende Grau der fotografischen Tonwertskala.
Sibylle Hoessler

"Es ist ein allgemeiner Fehler der Menschen, nicht in den Zeiten der Meeresstille mit dem Sturm zu rechnen."
Niccolo Macchiavelli (1469 - 1527)

Die Aufnahmen in Schwarz-weiß zeigen karge Szenerien von elementarer Gewalt und große Himmel. Menschen oder Tiere gibt es keine zu sehen und die Flora ist nur sehr spärlich. Schroffe Felsformation, Salzseen, erodierte Halbwüsten und weite Horizonte evozieren biblische Monumentallandschaften. Gedanken an die ersten beiden Tage der Genesis aus dem 1. Buch Mose kommen einem in den Kopf: Das Licht und damit Tag und Nacht werden geschaffen und das Himmelsgewölbe wird errichtet, das das Wasser unter der Erde vom Wasser über der Erde trennt.
Was sofort ins Auge fällt, sind die auffälligen Kontrast- und Helligkeitswechsel. Dies ist jedoch kein Fehler der Künstlerin sondern bewusster Eingriff. Die ursprünglichen Aufnahmen zu der photographischen Arbeit "American Express – Persuit of Happiness" * von Sibylle Hoessler entstanden 1993 auf einer Reise durch den "Wilden Westen" der Vereinigten Staaten. Im selben Jahr kündigte IBM einen Verlust von 4.97 Milliarden $ für 1992 an - der bis dahin höchste Verlust eines Großunternehmens in der Geschichte der Vereinigten Staaten.
Die Serie der 24 im A4 Format gerahmten bearbeiteten Fotos beginnt am 23.10.2008.
Dieses Datum ist in Anlehnung an den Vorabend des "Schwarzen Donnerstag von 1929" gewählt, als die jahrelange Hausse der New Yorker Börse endete und die Weltwirtschaftskrise begann, wegen der Zeitverschiebung in Europa als Schwarzer Freitag bekannt.
Das Ende des Zeitraums ist der 25.11.2008, also genau 24 Handelstage.
Als Bildunterschrift der Photos ist der jeweilige Tag angegeben.

Der US-amerikanische Leitindex bestimmte während dieser Zeit die Modulation der Grauwerte der 15 Jahre vorher aufgenommenen Fotos. Diese Volatilität der Finanzmathematik, die sich in der Schwankungsbreite von Marktparametern wie Aktienkursen und Zinsen ausdrückt, ist für Hoessler das Maß für die Beeinflussung ihrer Bilder durch äußere Prozesse.
Was war in dem Zeitraum genau geschehen?
Zur Erinnerung ein paar Satzfetzen aus dem WorldWideWeb.

23.10.2008 Katastrophales Ende für die Wall Street. Die schlechten Ertragszahlen für das dritte Quartal haben die US-Märkte auf ein Fünfjahrestief gedrückt. In der letzten Handelsstunde stürzten alle Indizes ab. Der Dow Jones rettete sich mit Mühe über 8500 Punkte. (Financial Times Deutschland)
Am gleichen Tag schlägt die New York Times Barack Obama den amerikanischen Lesern als zu wählenden Präsidenten vor.

24.10.2008 Aktienkurse fallen weiter. Frankfurt a.M. ‚ New York: Die zunehmende Angst vor einer Rezession hat zu teilweise panikartigen Verkäufen an den internationalen Börsen geführt. Der Deutsche Aktienindex DAX brach an diesem Freitag zwischenzeitlich um mehr als elf Prozent ein. In New York verzeichnete der Dow Jones zum Handelsbeginn ebenfalls deutliche Verluste. An der asiatischen Leitbörse in Tokio war der Nikkei-Index mit einem Minus von fast zehn Prozent aus dem Handel gegangen. (Deutsche Welle)
Nach Börsenschluss brachte das Wochenende keine Beruhigung. Im Gegenteil in der nächsten Woche ging es erst richtig los.

26.10.2008 Anleger verfallen dem Goldrausch - Finanzen - Börse + Märkte, die. Inflationsgefahren und fallende Aktienkurse absichern wollen. ...
Die gute, alte Lebensversicherung (www.handelsblatt.com)

27.10.2008 Aktienkurse stürzen weltweit ab. Tokio/Hongkong/Frankfurt/Main. Die Börsen weltweit haben sich auch am Montag nicht aus dem Abwärtssog der Vorwochen befreien können. Der Ausverkauf hat sich auch an der Wall Street fortgesetzt. (Frankfurter Rundschau)

28.10.2008 ... Der Aktienkurs sackte daraufhin ab. Mehr in Spiegel Online 29.10.2008 ... Aktienkurs: Spekulanten machen VW zum teuersten Konzern. (www.focus.de)
usw., usw., usw... bis es zum Wochenende am 20. Nov. 2008 richtig finster wird

20.11.2008 Wirtschaftsklima: Die Rezession erfasst nach und nach alle ...
November schlechte Vorgaben der Wall Street die Aktienkurse weltweit auf Talfahrt. ... Die Party ist vorbei sagt: ... (www.welt.de)
und als letzte Meldung:

24.11.2008 Aktiengeschäfte: Polizei nimmt reichsten Chinesen fest ... Er soll die Aktienkurse einer Firma seines Bruders demnach beeinflusst haben, ... uschi sagt:
Warum regt Ihr euch so auf? ...(www.welt.de)
Obama kündigt sein erstes Konjunkturpaket an

Die graumodulierten Fotos Sibylle Hoesslers sind wie Derivate, vom lateinischen "derivare", abgeleitet aus der Differenz vom täglich höchsten und niedrigsten Stand des Dow-Jones Index im Zeitraum Ende Oktober bis Ende November des Jahres 2008. Die Indexwerte bestimmen die Tonwertskala. Derivate sind Produkte, deren Wert sich überwiegend von dem Preis, den Preisschwankungen und Preiserwartungen eines zugrunde liegenden Basisinstrumentes wie Aktien, Anleihen, Devisen, Indizes usw.. ableitet. Sie sind so konstruiert, dass sie Schwankungen dieser Anlageobjekte im überproportionalen Maßstab nachvollziehen. Derivate wie Optionen, Futures und Swaps werden sowohl zur Absicherung gegen Wertverlust als auch zur Spekulation auf hohe Kursgewinne verwendet.
Hell und Dunkelkurse wechseln sich zu Beginn zunächst noch ab. Mit dem Fortschreiten der Zeit wird es immer grauer und die Konturen verlieren sich bereits. Zwischendurch erscheinen zwar noch einige hellere Photographien, zum Ende der Serie bis Mitte November überwiegen die dunklen Töne bis ins schwarz.

Menschenleere, unbevölkerte Ödnis, vielleicht einst blühende Landschaften.
Diese Gegenden des Wilden Westens wurden in der Pionierzeit ab Mitte des Neunzehnten Jahrhunderts auf Trecks von europäischen Auswanderern, Siedlern von der amerikanischen Ostküste, Glückssuchern und Männern, die schneller schießen können als der Arm des Gesetzes, durchquert. Sie alle waren auf dem Weg ins gelobte Land Kalifornien am Stillen Ozean. "Go West" hieß die Devise und war ein quasi religiöses Programm zur Inbesitznahme der Gebiete im Westen. Monumentale Gesteinsformationen, Salzseen, Wüsten und die Kriege mit der indianischen Urbevölkerung erschwerten den Weg.

Seit dieser Zeit rührt die bis heute bestehende Verklärung des Wilden Westens mit verschwommenen Männlichkeitsvorstellungen über Freiheit und Abenteuer, Recht des Stärkeren, Kampf um Besitz und ähnlichen klischeehaften Legenden.
Diese Epoche ist aber gleichzeitig mit der Industrialisierung und der Einführung eines Verkehrs- und Transportwesens in den Vereinigten Staaten verbunden.

Charles Dow, der Begründer von American Express - zunächst ein Expresspost – und Transportunternehmen verlegte sich bald auf rentablere Finanzdienstleistungen und Kredite und trug damit zur Virtualisierung von Waren Und Geldgeschäften bei. Ende des Neunzehnten Jahrhunderts entwickelte er das Schema des bis heute im Wesentlichen noch immer gültigen Dow Jones Industrial Average (kurz Dow) als einen Richtwert für die Beurteilung der Aktienkursschwankungen und zur Beschreibung von Aktienwertentwicklungen.
Das Aufkommen der pragmatischen Kommunikation zwischen Ost und Westküste der USA fiel also zusammen mit dem Goldrausch, der Kolonialisierung der Indianergebiete und dem Drang nach Westen der US-amerikanischen Pionierzeit.
Die Indianer blieben auf der Strecke und die Kolonisten ereichten letztendlich ihr Ziel. Zum Pazifik und darüber hinaus bis zum Liquiditätsrisiko-Stresstest.

Das Verhältnis von Erhöhung der Transport- und Informationsgeschwindigkeit, verbunden mit dem Austausch virtueller Güter (Geld oder Geldeswert) ist abgekoppelt von der physischen Präsenz und den Tagesrhythmen. Gehandelt wird auf den globalen Märkten 24 Stunden am Tag, egal wann und wo. Plus und Minus, 1 und 0, oben und unten, schwarz und weiß, Tag und Nacht, Gewinner und Verlierer, Bulle und Bär, Hausse und Baisse, der Boom und der Crash.
Dieser Textversuch ist vielleicht eine Spekulation, wie auch die Kursentwicklungen an internationalen Finanzmärkten. Aber in den Parallelgesellschaften dieses Universums entsprechen deren Wirklichkeiten nicht den Tatsachen. Was ist passiert? Der Tanz um das Goldene Kalb und sein Götzendienst haben zur finanziellen Kernschmelze geführt und der "American Dream" ist zum Albtraum geworden. Wenn dem Reaktor das Kühlwasser - also die Liquidität - ausgeht, tritt die Kettenreaktion ein. Hier kommt kein "greenback" (Volkstümlicher Ausdruck für den Ein-Dollar-Geldschein) zurück, auch nicht mit Gewinnerwartung.
Die fotografierten Landschaften sind trockene aride Gegenden. Ihre Entstehung entspringt erdgeschichtlichen Zyklen. Die Liquidität ist schon lange ausgegangen, die Böden sind aufgebrochen und muten an wie von Heuschrecken kahlgefressene Landstriche, über die das "Tumble-Weed", abgestorbene vertrocknete Büsche - taumeln. Die mangelnde Liquidität (sic!) lässt keine oder nur spärliche Vegetation aufkommen.

Heutige Finanzzyklen und die damit verbundenen Auswirkungen lassen Wüsten durch beschleunigte Erosion potentiell überall entstehen, wenn sich der Gewinnhorizont verdunkelt.
Sibylle Hoesslers Arbeit liefert eine Interpretationsmöglichkeit, die auf distanziert analytische Art und Weise dem "Streben nach Glück" an den Finanzplätzen der Welt und ihren Auswirkungen den Spiegel in Form von bedacht manipulierten Schwarz - Weiß Fotografien vorhält. Sie verarbeitet Signale mit dem Ziel die empfangenen Informationen zu extrahieren und diese nach einem festgelegten System der Verarbeitung sichtbar zu machen. Die Kulisse des Wilden Westens, wie wir sie aus den monumentalen Westernfilmen von John Ford kennen, benutzt sie als Metapher und fordert den Betrachter mit fotografischen Mitteln heraus, über weitgehend unbeeinflusste Naturlandschaften und wirtschaftskulturelle Parameter zu reflektieren und sich über weiteres in Zweifel zu setzen.
Glücksversprechen bedeuten nicht notwendigerweise deren Erfüllung. Häufig trifft das Gegenteil zu. Der Himmel wirkt bedrohlich, dunkle Wolken ziehen sich zusammen.

Noch ist es Krise und noch nicht Katastrophe. Was diese bedeuten könnte, brachte Elfriede Jelinek in "Die Kontrakte des Kaufmannes" im folgenden Satz zu Papier:
"Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll vom Amoklauf schweigen."
"Maturity-Mismatch" mit "Rollover-Risiko".
* "Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen wurden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt wurden, worunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit sind. Dass zur Versicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingeführt worden sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung der Regierten herleiten; dass sobald eine Regierungsform diesen Endzwecken verderblich wird, es das Recht des Volkes ist, sie zu verändern oder abzuschaffen, und eine neue Regierung einzusetzen, die auf solche Grundsätze gegründet, und deren Macht und Gewalt solchergestalt gebildet wird, als ihnen zur Erhaltung ihrer Sicherheit und Glückseligkeit am schicklichsten zu seyn dünket."
(deutsche Übersetzung der Unabhängigkeitserklärung der USA im Pennsylvanischen Staatsboten vom 5. Juli 1776)

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