Moralische Lektionen, Moral der Lektionen
von Michel Carmantrand

Die künstlerische Fotografie von Sibylle Hoessler ist in ihren vielfältigen Ausdrucksformen dem Menschen gewidmet, ja gibt sich ihm geradezu hin. Ihre verschiedenen Zugangsweisen sind von nur einer Sorge geleitet : dem Menschen schlechthin, folglich also von demjenigen, der in seiner Art sich der Welt zu stellen, sich ihr anzupassen und seine Lage in ihr zu bestimmen, deren Thema und jeweiliges Motiv ausmacht.

Das Thema, das Objekt eines Künstlers, legt in zwingender Weise die Form des Werks fest, indem es dieses dazu bringt, die abseits führenden Wege mit der Zeit zu verlassen, um sich schlieβlich auf den einzigen Weg zu konzentrieren, der wichtig ist, auf denjenigen, von dem es auserwählt wurde und den zu begehen es dann nicht mehr überdrüssig wird. Dabei kann es allerdings nicht hoffen, jemals die Grenzbereiche zu erreichen, da die uns gegebene Zeit zu kurz, unsere Anstrengungen vergeblich, unsere Kräfte zu schwach sind. Um ein berühmtes Beispiel anzuführen : Paul Cézanne wurde von dem Berg Sainte-Victoire auserwählt; dieser hat es ihm ermöglicht, auf seinen Abhängen die Vision einer Welt zu errichten, die immer gerade dabei ist ausgelöscht zu werden, so solide sie auch gewesen sein und mit der ganzen Gewalt ihrer Winde, ihrer Sonne und ihrer Felsen Widerstand geleistet haben mag. Das war eine Zeit, wo man noch an die Natur glaubte. Heutzutage sind an die Stelle dieser unmöglich gewordenen Einheit Fragmente und Facetten getreten, welche der Künstler im Spiegel anderer Facetten, nämlich der seinen, zu entziffern sich anstrengt.

Eine derartige Infragestellung in ihrer fortschreitenden Entwicklung kann nicht gut geleistet werden ohne einen Effekt der Reflexion hervorzurufen, der nicht nur die Fotografie mit einschlieβt, sondern auch den Beobachter, und dies im Laufe eines Fragens, welches die Identität eines jeden berührt : die seine, die Ihre (Singular), die meine, die Ihre (Plural).

Die Identität ist das Einzelne schlechthin. Sie ist das, von welchem ausgehend man «ich» sagen kann. Sie ist also das, von wo aus sich man einen festen Blickpunkt über den Rest zugesteht. Es gibt das Sich-Selbst und dann die Anderen. Das liegt in der Ordnung der Dinge. Aber gewisse Individuen werden zum Spiegel und erlauben diesen Anderen sich im Schein künstlerisch kohärenter Werke und einem ständig von vorne begonnenen Hin- un Zurück zu messen. In die Falle der Serien von Sibylle Hössler zu gehen läuft in gewisser Weise darauf hinaus, in der Sanduhr unter den unzähligen anderen in Bewegung befindlichen Sandkörnern umherzuspringen, deren Menge stetig hinter sich zu lassen und sich in Richtung des Flaschenhalses zu bewegen, durch welchen nur noch ein einziges Korn geht, um dann auf der anderen Seite des Spiegels auf das Allgemeine, die Welt zu stoβen und sich dabei zukünfig in einem als Sich-Selbst und als die Anderen wahrzunehmen.
Und das vollendet sich auf verschiedene Arten und Weisen, wobei alle um das eine und einzige Thema kreisen.
Denn ob es sich nun um KAUFRAUSCH (2005) handelt, eine Serie, in welcher die Fotografin, Handschuhe tragend, dunkel gekleidet und auf einem blauen Stuhl sitzend, vor der Kamera posiert und den Kopf in eine dieser von nur allzubekannten und ständig auf der Suche nach neuen Werbeideen und Kunden sich befindlichen Firmenmarken kostenlos verteilten oder an der Kasse verkauften Einkaufstaschen steckt, eine Serie, deren plastische Ironie durch den Kontrast zwischen Haltungen undVerblendung in die Augen springt…,

ob es sich um die überwältigende und paradoxal zur Verzweiflung treibende Schönheit der von der Sonne überflutenden und durch die Verminderung der Farben zur Abenddämmerung verklärten Landschaften aus der Serie AMERICAN EXPRESS, PERSUIT OF HAPPINESS _2009 handelt, diese Wüsten der Gegenwart - sollte sich nicht gerade einmal die Gelegenheit von selten vorkommenden und geheimnisvollen Wegen ergeben -, diese verödeten Landschaften, die ebenso auf keineswegs allzu romantische Pioniere der Fotografie (siehe American Frontiers, 1867-1874, Fotografien von Timothy H. O'Sullivan, N.y., Aperture, 1981) wie auch auf eine postapokalyptische Zukunft verweisen …,

ob es sich darum handelt, mittels prachtvoller fotografischer Abzüge WEDDING TO GO_ 2012 einer nicht zu Ende geführten Kollektion von in der vergeblichen Hoffnung auf eine neue Existenz, die sich am Ende selbst vernichtet, in einem Raum zusammengewürfelter Design-Gegenstände der Sechziger- und der Siebziger–Jahre einen strengen formalen Rahmen aufzuerlegen, mit all dem, was das von Neuem an Verödung, Aufgeben und Abwesenheit mit sich bringt …,

ob es sich um die Aufhebung von Identifikation und Wiederaufarbeitung handelt, wie etwa für die Schwarz - Weiss Serie ALBUM _2007-2008, wo Amateurfotografien aus den Dreiβiger - bis Sechziger -Jahren gemäss den Riten eine spezifische kulturelle Zeitlichkeit feiern, indem sie wie es sich gehört in der Gestalt von Einzel- oder Gruppenfotos, Erinnerungen an die Ferien am Meer, an Familien, Paare, Feste, dem Zusammensein nach dem Abendessen oder Bergwanderungen Zeugnis ablegen, von Erinnerungen an anonyme Privatexistenzen, deren Identität mit den Mitteln der digitalen Fotografie verwischt wurde, indem sie an die Stelle ihrer Gesichter eine quasi tote, undurchdringliche Maske eines auf alte Weise unkenntlich gemachten Bankräubers (ein Strumpf über dem Kopf) setzt …,

oder ob es sich um DUNKELBLAU _2003 handelt, wo sich die Fotografin in dem undefinierten Raum des Studios und seinem dunklen Hintergrund bewegt, auf jedem neuen Bild mit den Attributen kodierter, den jeweiligen sozialen und beruflichen, genau definierten und evidenten Kategorien zugehöriger Kleidung versehen, von der Nonne zur Prostituierten 'Domina'…, um hier nur einige Beispiele anzuführen -, zwischen zweckentfremdeter Soziologie und nuklearer Materialität, worauf der Heilige Sebastian, der sich den Elementarteilchen eines unendlichen entropischen Raums stellen muβ, auf der ersten Seite hinweist, verkündet die Fotografie von Sibylle Hoessler Orakel und Voraussagen, die, wie man seit der Zeit der griechischen Tragödie und Shakespeare wohl weiss, selten optimistisch sind.

Schwarzer Humor und Widerstand gegen Formen der Desintegration, zwischen Lachen und Weinen entwickelt sich hier in der Zeit eine Kosmogonie, die sich weder auf den Mythos noch auf das Theater gründet (wobei sie doch spöttisch bei deren Qualitäten Anleihen macht), sondern auf eine gewisse Hellsichtigkeit, welche auf die zentrale Frage, was denn der Mensch eigentlich sei, die Arbeit selbst zum Sprechen bringt : « Ich weiβ nicht, aber so funktioniert es; wir sind es immer zum groβen Teil selbst, welche die Fallen aufstellen, in die dann zu laufen wir so bedauern. Wir sind die Verantwortlichen eines geschlossenen Universums, und dies um so mehr in dem Augenblick, in dem wir angeblich auf seine Öffnung beharren. Hinter den guten Absichten verstecken sich die finstersten Anträge und die Wächter der Sitten sind Drachen und Zauberer. »

Die Lektionen der Moralisten, welche letzteren per definitionem und in der Praxis nicht mehr an die Tugend glauben als ein Theologe an Götter, sind heilsam dadurch, dass sie die Errungenschaften, auf welchen wir uns ausruhen, unsere Glaubensrichtungen, aber auch deren Voraussetzungen, in Zweifel ziehen, was den Vorteil mit sich bringt, sie daran zu hindern, nach der Unkrautvernichtung wieder nachzuwachsen. Die Vergeblichkeilen und memento mori von Sibylle Hoessler machen nicht satt, betäuben nicht, sondern beunruhigen, das ist ihre Funktion und ihre Qualität.